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Die Esslernschule - eine emotionale Achterbahnfahrt für die ganze Familie?

Nach langen Krankenhausaufenthalten und mit einer medizinischen Geschichte voller Komplikationen, sieht man sich plötzlich mit der Sondenabhängigkeit des eigenen Kindes konfrontiert. Stellen Sie sich vor, dass Sie keine Kraft mehr haben, alle Energiereserven aufgebraucht sind, und dennoch müssen Sie noch den harten Prozess der Entwöhnung durchstehen!

Nach langen Krankenhausaufenthalten und mit einer medizinischen Geschichte voller Komplikationen, sieht man sich plötzlich mit der Sondenabhängigkeit des eigenen Kindes konfrontiert. Stellen Sie sich vor, dass Sie keine Kraft mehr haben, alle Energiereserven aufgebraucht sind, und dennoch müssen Sie noch den harten Prozess der Entwöhnung durchstehen!

Wie bei allen zuvor überwundenen Hindernissen, findet man in sich ungeahnte Kräfte. Die Leute fragen uns, wie wir das bloß machen, wie wir es aushalten diese Herausforderungen zu meistern. Als Eltern stellt sich diese Frage überhaupt nicht: Man tut es einfach, man kämpft für das Kind.

Bei der Entwöhnung ist es das Gleiche, man geht weiter, man geht aufs Ganze. Dazu muss man ja auch sagen, dass die Aussicht auf Entwöhnung, auf ein Leben ohne Sonde stark dazu beiträgt, die Motivation nicht zu verlieren.

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Ich erinnere mich an die ersten Tage der Entwöhnung: Wir waren nach langen Monaten erschöpft, wir hatten immer auf die Gewichtskurve schauen müssen. Wir sollten abschätzen wann und wie oft sich unser Kind übergeben wird und jede Nacht aufstehen, um diese blöde Pumpe, wenn sie läutete, auszuschalten. Die lange Reise zur Esslernschule, die wir gerade hinter uns hatten, hatte uns noch müder gemacht, doch wir waren entschlossen die Herausforderung anzunehmen. Ich erinnere mich, dass wir schnell ins kalte Wasser gestoßen wurden. Das NoTube-Team braucht nicht lange, um die ankommenden Familien einzuschätzen. Alle Beteiligten wissen sehr schnell, was korrigiert und verbessert werden muss und welche Ratschläge gegeben werden müssen. Wir wurden zum Beispiel darum gebeten, Martin (Camilles großer Bruder) nicht mehr beim Schuheanziehen zu helfen. „Er ist schon groß, er kann das selber machen!“, hieß es. Uns wurde geraten, Camilles Kinderwagen so oft wie möglich zu Hause zu lassen. „Sie ist groß, sie kann gehen!“ Anfangs war das sehr verwirrend, weil wir den Eindruck hatten, dass der Blick des Teams nicht auf das richtige Ziel gerichtet war. “Dafür sind wir doch nicht hergekommen”, dachten wir uns. Erst später versteht man, dass all diese geschickt platzierten Ratschläge in die gleiche Richtung gehen: die Autonomie des Kindes fördern, das Loslassen lernen. Denn es sind genau diese Schritte, die dazu verhelfen aus der Sondenabhängigkeit herauszukommen, weil diese nicht nur das Kind, sondern auch die Eltern betrifft! Eine ganz neue Perspektive eröffnete sich uns. Wir lernten, unserer Tochterzu vertrauen, ihre  Bedürfnisse und ihre Vorlieben zu respektieren, ihr ihren Platz und ihre  Autonomie innerhalb der Familie zu gewähren. Alles Dinge, die ganz natürlich klingen, aber durch die Krankenhausaufenthalte und der damit zusammenhängenden Ungewissheit beeinflusst worden waren. Vor unserer Ankunft konnten wir uns den Umfang der Behandlung nicht vorstellen. Die Entwöhnung ist nicht nur ein medizinischer Eingriff, der psychologische Aspekt hat auch einen wichtigen Stellenwert.

Kein Tag gleicht dem anderen: Mal ist Camille sehr gereizt, müde und verweigert hartnäckig, irgendetwas zum Mund zu führen; mal entdecken wir ein neues kleines Mädchen, das viel mehr lächelt und spricht und uns die schönsten Essleistungen schenkt. Natürlich ist alles relativ, aber anfangs gerät man in Entzückung darüber, wie sie ihren Finger in Frischkäse eintaucht und zum Mund führt, oder wie sie Wasser in großen Schlucken trinkt und dazwischen jedes Mal mit einem „Ah“ ihre Freude unterstreicht, oder auch wie sie den ganzen Tag ein kleines Milchbrötchen überall hin mit sich herum schleppt und sorgfältig daran knabbert. In diesen Momenten glaubt man an den Erfolg, man denkt, dass man gewonnen hat, dass sie auf dem richtigen Weg ist und sich von Nichts aufhalten lassen wird. Und wenn der nächste Tag mal ein Tag „ohne Erfolg“ ist, wird einem klar, wie labil alles noch ist, und dass einen nichts vor einem Schritt zurück schützt. Das regelmäßige Wiegen ist auch eine Stressquelle. “Wird sie etwas zugenommen haben oder wertvolle hundert Gramm verloren haben?” Der Austausch mit den anderen Eltern, die am Programm teilnehmen, ist sehr bereichernd. Was für eine Erleichterung, zu merken, dass man in dieser Situation nicht alleine ist! Gleichzeitig ist es manchmal verlockend, die Fortschritte unserer Kinder zu vergleichen und sich somit neue Sorgen zu bereiten. Zum Glück ist das ganze Team auf der Hut und findet die richtigen Wörter, um uns zu beruhigen und aufzumuntern.

Und dann kommt der erste „Probetag“ ohne Therapie und ohne Sonde. Wir versuchen ihn anzugehen, als wäre er ein ganz normaler Urlaubstag mit der Familie. Glück und Angst sind nah beieinander. Werden wir einen Rhythmus finden, der uns allen passt, ohne unsere tägliche Organisation mit dem Sondieren zu fixen Zeiten? Eigentlich ist es sehr angenehm, einfach zu leben, ohne ständig auf die Uhr zu schauen. So haben wir Zeit, im Park spazieren oder schwimmen zu gehen, oder ein Museum zu besuchen. Das alles an einem einzigen Wochenende? Wir hatten vergessen, wie die Dinge ablaufen, wenn die Sonde nicht unser Leben bestimmt. Es ist ein Vorgeschmack darauf, was uns nach unserer Rückkehr nach Hause erwartet.

Bei der Rückkehr haben wir dann tatsächlich Glück und Angst. Werden wir es schaffen, die Ratschläge, die wir in Österreich bekommen haben, auch hier, zu Hause, in unserem Alltag umzusetzen? Wie wird Camilles Integration in die Kita laufen? Wird sie in diesem neuen Umfeld das Essen akzeptieren? In den ersten Wochen sind einige Anpassungen notwendig. Es gibt mal gute, mal schlechte Tage. Camille macht weiterhin Fortschritte in ihrem eigenen Rhythmus. Sie wollte nur mit der Spritze essen und auf einmal fängt sie an, Joghurt mit dem Löffel hinunter zu schlingen. Sie erforscht neue Geschmäcker und neue Konsistenzen. Ihre Freunde in der Kita dienen als Vorbilder, um sie dazu zu ermutigen.

Rückwirkend betrachtet wird einem erst nach einigen Monaten die tatsächlich zurückgelegte Strecke bewusst, denn im Alltag weist nichts mehr auf die Probleme von früher hin. Camille isst dasselbe wie der Rest der Familie, sie nimmt regelmäßig zu, gedeiht gut, erforscht die Welt um sich herum, wie jedes andere gleichaltrige Mädchen. Also ja, diese Entwöhnung hat sich wie eine emotionale Achterbahnfahrt angefühlt, aber heute ist es eindeutig, dass sie sich gelohnt hat.