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“Eins, zwei, drei - beim Essen ist ja nichts dabei” - Esstherapie bei Kindern ohne Sonde, ein Fallbeispiel

Wenn Kinder Essprobleme haben, ist das gesamte Familiensystem und Alltagsleben betroffen. In dem nachfolgenden Artikel geht es um Klara und wie sie in der Esslernschule gelernt hat, die nächsten Fortschritte in ihrem Essverhalten zu machen.

Klara ist fast 5 Jahre alt, als sie mit ihren Eltern in unsere Esslernschule kommt. Sie ist ein kluges Mädchen und weiß ganz genau was sie nicht mag. Sie mag es nicht, schmutzig zu werden oder selbstständig zu löffeln, außerdem will sie kaum feste Nahrung anfassen, sie nicht kauen und schlucken. Sie zittert regelrecht weil sie sich so davor ekelt. Schon alleine die Vorstellung, von einer Semmel, einem Croissant oder einem anderen ähnlichen “großen” Nahrungsmittel abbeissen zu müssen, macht ihr Angst. Hat Klara zu viel im Mund, würgt sie. Es kommt auch vor, dass sie sich erbricht. Manchmal fragt sie auch ihre Eltern und weitere nähere Bekannte, ob jeder Schlucken kann und ob es nicht mit Schmerzen verbunden ist. Klaras gesamte Familie weiß, dass Essen und auch Trinken ihr noch nie leicht gefallen ist. 

Klara hatte immer schon Probleme mit ihrem Gewicht. Sie wurde viel zu früh geboren. Sie hatte ein Geburtsgewicht von weniger als 500g. Die Anfangszeit nach der Geburt war nicht einfach, sie hatte Anpassungsprobleme, konnte nicht eigenständig atmen und brauchte deshalb Sauerstoff. Sie musste daher die ersten Lebensmonate im Krankenhaus bleiben. Während dieser Zeit schaffte sie dennoch den Übergang zur oralen Kost. Im Alter von einem halben Jahr wurde sie ohne Sauerstoff und ohne Ernährungssonde aus dem Krankenhaus entlassen. 

Zu Hause angekommen, akzeptierte sie zu Beginn Fläschchen mit Muttermilch. Die Umstellung auf Beikost gelang ohne Probleme. Im Alter von eineinhalb Jahren wollte Klara nur noch ganz bestimmte Babybreie gefüttert bekommen. Die Breie mussten eine ganz bestimmte Konsistenz aufweisen. Sie durften keine Stückchen enthalten. Andere Breie akzeptierte sie nicht. Mit fester Kost (wie z.B. Salamistangen) spielte sie nur, aß sie aber nicht. Da Klara alles andere verweigerte wurde sie fortan nur noch mit “ihren Breien” gefüttert. Flüssigkeiten akzeptierte sie nur noch in geringen Mengen. In Folge stagnierte Klaras Gewicht. Die Ärzte sprachen davon, eine PEG-Sonde legen zu lassen. Doch ihre Eltern versuchten es mit angereichertem hochkalorischen Brei. Die Umstellung war nicht ganz einfach, doch Klara akzeptierte diesen nach und nach. Mit drei Jahren kam Klara in den Kindergarten. Die Eingewöhnung war auf allen Seiten mit viel Stress verbunden. Klara fühlte sich zu Beginn nicht wohl. Die KindergartenpädagogInnen waren sehr einfühlsam und es gelang, Klara im Kindergarten zu füttern. Vor gut einem Jahr änderte sich dieser Umstand wieder und Klara verweigerte es, generell im Kindergarten gefüttert zu werden. Füttersituationen fanden nur noch zu Hause statt, an einem anderen Ort verweigerte sie.

Zu Hause wurde Klara von ihren Eltern auf eine ganz bestimmte Weise gefüttert: während der Esssituation musste sie abgelenkt werden (z.B. in dem ein Buch vorgelesen, ein Video angesehen wurde, etc.). Die Eltern und auch andere Familienmitglieder boten immer wieder Fingerfood an. Klara machte erste Fortschritte in ihrer Essselbstständigkeit - mit Hilfe der Ablenkung und der Belohnung während der Esssituation sowie mit Geduld ihrer Familie, schaffte sie ein paar Löffel selber zu essen. Zu dieser Zeit traten vermehrt familiäre Probleme auf. Klaras Oma, zu der sie einen sehr guten Kontakt hatte, wurde sehr krank und verstarb in weiterer Folge. Klara selbst erkrankte an mehreren heftigen fieberhaften Infekten, weswegen sie ihre neu erlernte Essselbstständigkeit wieder einstellte. Die Infekte wirkten sich neuerlich negativ auf ihre Gewichtsentwicklung aus. Sie verlor Gewicht, welches nur mühsam wieder aufgebaut werden konnte. 

Die gesamte Esssituation ist mittlerweile sehr angespannt. Die ganze Familie macht sich mittlerweile große Sorgen und suchen Hilfe bei verschiedene Expert:innen vor Ort. Innerhalb des letzten Jahres hat Klara an mehreren Esstherapien teilgenommen. Veränderungen in der Esssituation sind ausgeblieben, der Durchbruch ist ihr noch nicht gelungen. Klara wird weiterhin hauptsächlich mit ihren hochkalorischen Breien gefüttert. Die Anlage einer PEG-Sonde steht erneut im Raum. 

Die Eltern erfahren von einer guten Freundin von NoTube und beschließen die Esstherapie nach dem Grazer Modell in Graz zu machen. Sie möchten die Anlage einer PEG-Sonde unbedingt vermeiden, da sie befürchten, dass der Fremdkörper und die Einschränkung für die sportliche Klara schwer tolerierbar sein würden. Sie wollen, dass Klara ihre Essselbstständigkeit verbessert, Stückchen besser schlucken kann und weniger würgt. Sie möchten auch die Aufmerksamkeit und den Stellenwert des besonderen Esssverhaltens innerhalb der gesamten Familie reduzieren. Die Eltern glauben an Klara auch wenn sie sich selbst nur schwer vorstellen können, wie es ist, wenn man nur bestimmte Dinge essen mag. Bei anderen Familienmitgliedern gibt es sonst keine Essverhaltensauffälligkeiten. 

In Graz angekommen, wird an Klaras Selbstständigkeit in Gruppen- und Einzelsitzungen gearbeitet. Sie lernt Nahrungsmittel auch am Körper auszuhalten - in den Sensorikgruppen macht sie immer besser mit, greift verschiedene Texturen an und wird mit verschiedenen Gerüchen konfrontiert. Klara ist richtig motiviert, etwas zu ändern, auch wenn es nicht leicht für sie ist. Die Esslernschule ist eine Therapie für die gesamte Familie. In psychologischen und psychotherapeutischen Einzel- und Familientherapien werden diverse Ängste im Esslernkontext angesprochen und Lösungsstrategien erarbeitet, die die Essselbstständigkeit der Kinder fördern. Klara lernt sich ihren Ängsten zu stellen. Sie entwickelt kleine Helfersprüche “Eins, zwei, drei - beim Essen ist ja nichts dabei” und schafft es, neben Wasser und Tee auch hochkalorische Trinknahrung selbstständig aufzunehmen. Bei festerer Kost macht sie kleine Fortschritte - sie braucht zwar noch länger um “Chips” zu essen, dennoch lernt sie diese zu schlucken. Sie vertraut auf ihre neu erlernten Fähigkeiten und traut sich immer mehr Festes zu schlucken. In der Esslernschule werden die ersten Schritte in Richtung einer selbstständigen Ernährung gesetzt und Klaras Mut ist geweckt. Sie freut sich schon auf den Kindergarten, denn bald kann sie mit ihren Freund:innen gemeinsam bei Tisch essen. 

Klara ist eines von vielen Kindern, die Probleme haben, Nahrungsmittel mit bestimmten Konsistenzen zu tolerieren. Die Angst vor Neuem spielt hier eine große Rolle. Klaras Geschichte zeigt auf,  dass eine Esstherapie immer auch die gesamte Familie betrifft. Essen betrifft nicht nur den Einzelnen (Essenden), sondern findet im sozialen Kontext statt und hängt auch mit mehreren Sinnesebenen zusammen. Wir sehen und riechen nicht nur eine Speise oder ein Getränk, sondern fühlen diese auch, im wahrsten Sinne des Wortes.

Wir bei NoTube schaffen das ideale Umfeld für die Familien, die zu uns in Behandlung kommen. Durch unseren kind-zentrierten Ansatz gelingt es uns, die Kinder genau dort abzuholen wo sie entwicklungs-, sinnes- und oral-motorisch technisch stehen.

Mehr Information zu unseren Programmen für Kinder mit Essstörungen finden Sie hier.