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Mein Erfahrungsbericht über eine Woche, in der ich mich ausschließlich mittels Ernährungssonde ernährte (Teil 2)

Dieser Blog ist der zweite Teil eines Erfahrungsberichts über eine Woche, in der ich mich ausschließlich über eine Ernährungssonde ernährte, um dadurch besser nachvollziehen zu können, was sondenernährte Kinder und ihre Familien durchmachen müssen. Teil 1 finden Sie hier.

Es fällt mir schwer, wachzubleiben

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Am Morgen des dritten Tages war ich so müde wie ich es glaube ich noch nie zuvor gewesen bin und das obwohl ich morgens normalerweise nur so vor Energie sprühe. Nachdem ich meinen Kumpel Alexander vom Bahnhof abgeholt hatte, fiel es mir schon ziemlich schwer, mich wachzuhalten.

Ich glaube, die drei Hauptgründe dafür waren:

1. Ich hatte vielleicht 5 Stunden geschlafen und das ist für mich einfach zu wenig (Ich hatte an Tag 2 bis spät in die Nacht gearbeitet)

2. Das Nahrungsdefizit. Für diesen Tag hatte Marguerite meine Tagesration an Sondennahrung auf nur 1.200 kcal hinabgesetzt (eigentlich viel zu wenig für mein Alter, Gewicht und Größe), damit ich mich langsam an die Sondenernährung gewöhnen würde und um Erbrechen zu vermeiden – eine unerwünschte Begleiterscheinung, die besonders zu Beginn der Sondenernährung häufig auftritt.

3. Am zweiten Tag war die Schleimhaut meines Nasen-Rachenraums durch die Ernährungssonde schon sehr stark irritiert gewesen. Heute, am Morgen des dritten Tages, war mein Rachen dann ganz wund, geschwollen und schmerzte, meine Nase triefte und meine Augen tränten.

Mein Köper hat wohl auf diese Umstände mit Müdigkeit reagiert und wahrscheinlich hätte ich mehr als meine üblichen 7-8 Stunden schlafen müssen, um das alles auszugleichen, aber diese Möglichkeit hatte ich nicht.

bakeryMeine erste "Mahlzeit" in der Öffentlichkeit

Zum Frühstücken ging ich mit Alexander in diese kleine Bäckerei in der Grazer Altstadt.Ich hatte die Spritzen und die Sondennahrung dabei und begann, mich zu sondieren.Mir wurde bewusst, dass ich mich gerade zum ersten Mal an einem öffentlichen Ort sondierte. Niemand warf mir einen schiefen Blick zu. Ich überlegte, ob ich nicht besser die Bedienung fragen sollte, ob es überhaupt in Ordnung sei, meine Sondennahrung hier zu „konsumieren“ – so wie man eben auch in einem Restaurant fragen würde, wenn man selbst mitgebrachtes Essen und Trinken dort konsumieren wollte.

laptopIch entschied, es sein zu lassen, denn welche Person mit Ernährungssonde würde schon jedes Mal im Restaurant nachfragen ob es okay wäre, sich zu sondieren. Am Nebentisch saß eine junge Frau, die immer wieder zu mir herüberblickte, aber auf eine Weise, von der ich mich nicht gestört fühlte. Ich bat um ein leeres Glas (für die Sondennahrung) und auch ein Glas Wasser, damit ich die Sonde nach dem Sondieren durchspülen konnte. Für die Leute an den anderen Tischen muss das schon ein sehr eigenartiger Anblick gewesen sein, aber sie erschienen mir, als wären sie daran besser gewöhnt als ich.

Interessanterweise konnte mir Alex überhaupt nicht dabei zusehen, wie ich mir die Sondennahrung mit der Blasenspritze über den Plastikschlauch in den Magen leitete und er war nicht der einzige, der so reagierte. Es ist eigenartig, irgendwie ist es vielen Leuten wohl unangenehm, dabei zuzusehen, wie andere medizinisch versorgt werden bzw. sich selbst versorgen, wie in meinem Fall.

Nach diesem Frühstück und der kurzen Nacht, war ich so müde, dass ich auf dem Weg nach Hause in der Straßenbahn einschlief und Alex befürchtete schon, ich hätte das Bewusstsein verloren. Mein restlicher Arbeitstag bestand aus Meetings, soweit ich mich erinnere. Ich bin sicher, ich sondierte mich zu Mittag, aber daran kann ich mich jetzt nicht mehr genau erinnern.

Das Abendessen ̶ Ganz schön schwierig, all den Versuchungen zu widerstehen!

Das Abendessen war auch eine interessante Erfahrung für mich: Während es für meine Familie leckere Nürnberger Würstchen und Pfannkuchen gab, musste ich mich schon sehr zusammenreißen, um konsequent zu bleiben und nahm überhaupt nichts über den Mund zu mir und das obwohl ein so herrlicher Duft nach Essen in der Luft lag. 

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Bratwürstchen gehören einfach zu meinen LIEBLINGSSPEISEN! Die könnte ich zum Frühstück, Mittagessen und Abendessen verspeisen! Leider machte mich dieser herrliche Duft nach Essen hungriger als ich es eigentlich war und ich ertappte mich zum ersten Mal dabei, wie ich den Kühlschrank öffnete und wehmütig das Glas Essiggurken anstarrte, doch ich hielt mich eisern an meinen Vorsatz und ließ die Finger davon (Auch Essiggurken liebe ich sehr, ganz besonders die süß-sauer eingelegten).

Ich hatte mir geschworen, eine Woche lang alle Speisen und Getränke ausschließlich über die Ernährungssonde zu mir zu nehmen und ich war fest entschlossen, diesem Plan treuzubleiben und in dem Moment vor dem Kühlschrank wurde mir erst so richtig bewusst, dass weitere drei harte Tage des Verzichtes vor mir lagen.

Am Abend merkte ich, dass ich mich schon wesentlich besser an die Sonde gewöhnt hatte und sie kaum noch in meinem Rachenraum wahrnahm. Das Nasenloch, durch das die Sonde führte, war nicht mehr permanent verstopft, die Sonde selbst spürte ich aber schon noch.

Meine Erkenntnisse der vergangenen Tage

Ich muss schon sagen, dass ich in der kurzen Zeit mit der Ernährungssonde erstaunlich viel über Sondenmanagement dazugelernt habe, aber wirklich überwältigt hat mich, wie das Sozialleben durch die Sondenernährung eingeschränkt wird und wie sie sich auf die psychische Verfassung auswirkt.

Meine Erkenntnisse über die Auswirkungen der Sonde auf das soziale Umfeld

Meine bisher wahrscheinlich tiefgreifendste Erfahrung hat tatsächlich nichts mit dem eigentlichen Vorgang der Sondenernährung oder der Art und Weise, wie die Ernährung über die Sonde funktioniert, zu tun. Meine bisher gesammelten Erfahrungen drehen sich vielmehr darum, wie meine Familie, Freunde und Fremde auf meine Sonde reagierten. Kurzgesagt, alle gingen sehr unterschiedlich damit um und ich kann viele der Reaktionen gut nachvollziehen. Durch dieses Experiment habe ich eine ganz neue Seite an einigen kennengelernt.

Wie meine Familie reagierte:

Fangen wir bei meiner Familie an: Vor dem Beginn des Experiments hielt mich meine Mutter für durchgeknallt, aber sie stand trotzdem hinter mir und unterstützte mich. Sie besorgte die Ernährungssonde mit Zubehör und legte sie mir über die Nase in den Magen. Sie achtete auf mich, beantwortete alle meine Fragen und gab mir praktische Tipps. Mein Vater hingegen brachte sich nicht so aktiv ein. Er sah mir zwar zu und beantwortete Fragen, wenn ich welche hatte, aber anders als sonst hielt er sich eher aus dem Experiment raus. Ich habe ihn noch nicht gefragt, warum er sich so verhielt, vielleicht möchte er ja unten einen Kommentar hinterlassen und uns seine Meinung in Bezug auf das Experiment mitteilen und erklären, warum er so reagierte.

Mein Bruder Noah half mir, indem er mich bei der „Selbstapplikation“ der Sondennahrung filmte; er hatte auch ziemlich großes Interesse an der Sache und ließ sich von der Tatsache, dass ich jetzt eine Ernährungssonde hatte nicht sonderlich irritieren. Er ließ mich sogar mit ihm und seinen Freunden fußballspielen, was verdeutlicht, dass ihm meine Sonde wohl nicht „peinlich“ war. Meine Wiener Schwestern lobten mich ob meiner Stärke aber weil sie und der Rest der Familie eben nicht hier in Graz waren, bekamen sie das Ganze auch nicht so hautnah mit wie jemand der „live dabei ist“.

Interessanterweise fand meine Stiefschwester, die gerade zu Besuch war, meine neue Ernährungsweise eher abstoßend und wollte nicht einmal dabei zusehen, wie ich mir die Sondennahrung in den Magen leitete. Sie verließ dann immer den Raum und ich sollte sie rufen, sobald ich damit fertig sein würde! Ihre bezaubernden Kinder (7 und 10 Jahre alt) hatten dafür umso weniger ein Problem damit und stellten mir viele Fragen. Der Rest meiner Familie (Ich habe insgesamt 11 Geschwister, ja, 11!) hatte eher wenig zum Experiment zu sagen. Ich habe nicht viel von ihnen gehört und auch nachdem das Experiment vorüber war kamen keine Anmerkungen ihrerseits. Ich weiß auch nicht, warum das so war.

Vielleicht waren sie einfach nur sehr beschäftigt oder wollten sich in die Debatte über ein vermeintlich sehr kontroverses Thema lieber nicht einmischen. Meine Großeltern standen hundertprozentig hinter mir und fragten sich, wie sich das ganze wohl anfühlte. Nachdem ich nun geschildert habe, wie mein Umfeld darauf reagierte, dass ich mich freiwillig für eine Woche über eine Ernährungssonde ernährte, möchte ich als nächstes näher auf die Wichtigkeit von normal eingenommenen Mahlzeiten eingehen.

Der Stellenwert von Essen und gemeinsamen Mahlzeiten in meiner Familie

Bei NoTube liegt der Fokus klar auf Kindern und dem Essen(lernen). Daher liegt es nahe, dass bei uns in der Familie Kochen und gemeinsames Essen einen sehr hohen Stellenwert hat. In unserem Familienalltag, spielen Mahlzeiten im Kreis der Familie schon eine wichtige Rolle. In unserem Berufsleben helfen wir Kindern beim Essenlernen und daher ist es wenig verwunderlich, dass wir privat stets Ausschau nach neuen Restaurants mit guter Küche oder Rezepttipps für köstliche Gerichte halten, die wir dann gemeinsam genießen. Als ich mich entschloss, für eine Woche nichts zu essen, hat das den Familienalltag schon ein bisschen durcheinandergebracht, muss ich sagen. Auf einmal ging ich nicht mehr in den Supermarkt, bereitete kein Essen mehr zu und nahm auch nichts mehr über den Mund zu mir.

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Gedrückte Stimmung in der Familie

Schon eigenartig, wenn man essen soll und jemandem gegenübersitzt, der überhaupt nichts isst. Das ist eine etwas komische Situation, in der man sich unwohl fühlt. Man hat schon fast Gewissensbisse, dass man selbst seine Mahlzeit genießt. Ungefähr so hat sich meine Familie zum Teil in den letzten Tagen gefühlt.

Zu den Mahlzeiten setzte ich mich mit an den Tisch, vor mir ein leeres Teller, das ich manchmal einfach zurück ins Geschirregal stellte. Vielleicht bildete ich mir das zu einem gewissen Grad auch nur ein, aber ich hatte wirklich den Eindruck, dass das die Stimmung drückte.

Normalerweise koche ich manchmal für meine Familie und bitte sie zu Tisch. Während des Experiments tat ich das natürlich auch nicht und ich glaube, meine Familie hat dadurch in dieser Woche insgesamt ein bisschen weniger gegessen als sonst bzw. mit weniger Enthusiasmus gegessen.

 

Gemeinsame Mahlzeiten stärken die zwischenmenschliche Beziehung

Aus meiner Sicht und auch aus meiner persönlichen Erfahrung heraus, muss ich sagen, dass ich mich durch die Sondenernährung schon zurückgezogen habe und mich isoliert fühlte. Ich liebe ja dieses Gefühl der Zufriedenheit, das man nach einer ausgezeichneten Mahlzeit in guter Gesellschaft hat. Ich habe oft die Erfahrung gemacht, dass eine gemeinsame Mahlzeit die soziale Beziehung zu der Person, mit der man isst, stärkt. Nach einer Woche ohne Familienessen fühlte ich mich irgendwie leer und ich sehnte mich nach einem richtigen Essen mit Freunden oder der Familie.

Als stolzer Onkel von 11 wundervollen Nichten und Neffen (die Kinder meiner 11 Geschwister) erlebe ich so oft mit, was für eine schöne Erfahrung es ist, sein Kind zu füttern und mitzubekommen, wie es in kleinen Schritten langsam lernt, zu essen. Ich möchte den Anblick meines Neffen Gavriel, wie er Gurkensticks in Wasser tunkt, einfach nicht missen. Meiner kleinen Nichte Rosi dabei zuzusehen, wie sie beim Frühstück fast eine doppelte Erwachsenenportion schafft, versüßt mir immer wieder den Morgen. Ein unvergesslicher Moment war auch, als ich auf den dreijährigen Jonas aufpasste und er mir ganz stolz das große schlangenförmige „Gaxi“ zeigte, das er gerade gemacht hatte. Das sind einfach wundervolle Momente, die ich nie vergessen werde!

Es ist kaum vorstellbar, wie es für Eltern von Sondenkindern wohl sein mag, im Alltag solche unglaublich schönen und witzigen Momente rund um das Essen missen zu müssen, weil sie ihr Kind eben nicht auf die Art und Weise mit Nahrung versorgen können, wie es die Natur vorgesehen hätte. Ich war schon oft dabei, als meine Geschwister ihre Kinder gefüttert haben und weiß aus erster Hand, wie wichtig die Fütterinteraktion zwischen Eltern und Kind für die Eltern-Kind-Beziehung ist – sowohl für Mutter und Vater, als auch für das Kind. Es ist schon traurig, dass diese Erfahrung vielen Eltern wegen der Ernährungssonde verwehrt bleibt.

Ich stelle mir vor, dass es für betroffene Eltern bestimmt eine schmerzvolle Erfahrung ist, wenn sie Zeit mit Freunden verbringen und sehen, wie diese ihre eigenen Kinder normal füttern. Es tut sicher auch weh, wenn man sein Kind nicht in den Kindergarten schicken kann, weil keiner der Betreuer dort bereit ist, die Nahrungsgabe zu übernehmen. Und es kränkt einen, wenn andere Eltern meinen, man selbst wäre für die Sondenabhängigkeit des eigenen Kindes verantwortlich. Wie groß dieser Leidensdruck bei Eltern mit einem Sondenkind sein muss, kann ich mir nicht einmal ansatzweise vorstellen.

Soweit ich mitbekommen habe, tendieren Mediziner, Krankenpfleger, Logopäden und all die anderen großartigen Menschen, deren Berufung es ist, Familien mit sondenernährten Kindern zu helfen, oft dazu, sich viel mehr auf die rein körperlichen Nebenwirkungen der Sondenernährung zu konzentrieren, wobei sie die ebenfalls ernstzunehmenden Auswirkungen der Sondenernährung auf die Lebensqualität und das soziale Umfeld von Betroffenen eher ausklammern.

Wir hier bei NoTube sagen den Familien, die zu uns kommen immer, dass wir in unseren Programmen 50% der Unterstützung dem Kind geben und 50% den Eltern. Viele andere Programmanbieter konzentrieren sich viel zu sehr allein auf das Kind und viel zu wenig auf die Eltern. In Anbetracht der oben erwähnten Alltagssituation wird doch mehr als deutlich, wie wichtig es ist, die Eltern beim Essenlernen miteinzubeziehen und sie gleichermaßen zu betreuen, schließlich sind es die Eltern, die ihr Kind am allermeisten unterstützen können.

Ich freue mich darauf, jede auftretende Frage zu beantworten!

Ihr, Samuel Scheer!